Ist es angemessen, dass ein ganzer Verband suspendiert werden soll?
Es ist längst überfällig, dass aufgrund der Tragweite des Skandals ein kompletter Verband suspendiert wird. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass bei den „großen“ Dopingfällen – auch in Österreich – die Verbände praktisch immer schon vorher gewusst hatten, wer in ihren Reihen dopt. Wenn das dann nicht nur toleriert sondern aktiv unterstützt und organisiert wird, dann ist der Verband zur Verantwortung zu ziehen. Das ist ein wichtiges Signal auch für andere Länder und andere Verbände. Denn dann werden die Verbände, die den besten Zugang zu ihren Sportlern haben, sich entsprechend engagieren, damit in ihrem Verband nicht gedopt wird.
Russische Leichtathleten berichten nun öffentlich, dass geschätzte 99% der Nationalmannschaftsmitglieder mit Doping arbeiten. Unter diesem Aspekt scheint die geforderte Suspendierung des gesamten Verbandes jedenfalls gerechtfertigt.
Ist es Zufall, dass es Russland trifft?
Zum Korrumpieren gehören immer zwei: einer, der besticht und ein anderer, der sich bestechen lässt. Offensichtlich hat Ex-IAAF-Präsident Lamine Diack hier mit dem russischen Verband einen geeigneten „Partner“ gefunden, wie das in anderen Ländern in dieser Dimension – und auch mit derart vielen leistungsstarken und somit „interessanten“ Athleten – nicht denkbar scheint. Eine staatliche Einflussnahme auf Dopingtests gibt es natürlich auch in anderen Ländern, aber nicht in dieser Dimension.
In Kenia gibt es eine Häufung von Dopingfällen und deren Verband ist sicherlich sehr korruptionsanfällig (was auch in der Doku von Hajo Seppelt thematisiert wurde). Der kenianische Verband ist im Gegensatz zum russischen Verband aber viel weniger straff organisiert, weshalb „staatliches“ Doping wie in Russland, wo offensichtlich auch der russische Geheimdienst eine wichtige Rolle spielte, dort praktisch nicht möglich ist.
Warum gerade in der Leichtathletik?
Es ist mehr oder weniger Zufall, dass sich mit Hajo Seppelt ein deutscher Journalist den Bereich der Leichtathletik genauer angeschaut hat und im Zuge seiner Recherchen auf diese Malversationen gestoßen ist. Wenn aber der russische Sportminister selbst Einfluss auf Dopingtestergebnisse genommen hat, dann gilt es als unwahrscheinlich, dass er diesen Einfluss exklusiv auf die Leichtathletik beschränkt hat. Auch in anderen Sportarten, z.B. im Schilanglauf und Biathlon, sind zahlreiche russische Athleten wegen Dopings gesperrt und viele Leistungen erscheinen fragwürdig.
In der Leichtathletik gab es im Rahmen der WM 2011 in Daegu (KOR) eine anonyme Befragung der Teilnehmer, wo mehr als 30% der WM-Teilnehmer zugaben, dass bei ihren Leistungen Doping im Spiel war. Deutsche Wissenschaftler haben die Untersuchung ausgewertet, die IAAF war über die Ergebnisse derart schockiert, dass eine Veröffentlichung bis heute mit Gewalt verhindert wurde.
Offensichtlich traut aber u.a. auch der internationale Schwimmverband (FINA) nicht ganz dem russischen Dopingkontrollsystem, sonst würde man nicht die von der Schwimm-WM in Kazan in diesem Jahr genommenen Proben nicht – wie jüngst gemeldet – aus Moskau in ein Labor in Barcelona holen.
Welche Konsequenzen sollten gezogen werden?
Für den neuen IAAF-Präsidenten Sebastian Coe ist dieser Fall der Lackmustest, ob er hier wirklich Glaubwürdigkeit und die notwendige Ernsthaftigkeit in den Antidoping-Bemühungen zeigt und ob er sich im Council überhaupt durchsetzen kann. Aber wer, wenn nicht er? Grundsätzlich wird seine Arbeit durch den Umstand erschwert, dass auch in der IAAF das „one country, one vote“-Prinzip gilt, wo z.B. die Elfenbeinküste den gleichen Einfluss wie die USA oder die großen LA-Nationen Europas haben und Korruption schon fast programmiert ist. Ob es tatsächlich zu einer Suspendierung des russischen Verbandes kommt erscheint zweifelhaft, eher ist ein Kompromiss zu erwarten, im Zuge dessen Russland Besserung gelobt und ein paar Personen ausgetauscht werden.
Es ist international eine Änderung der Strukturen und bei der Zuständigkeit der Dopingkontrollen dringend notwendig. Dopingkontrollen innerhalb des eigenen Verbandes sind sinnlos und eine Geldverschwendung, das zeigen genug internationale und nationale Beispiele. Die WADA muss mit absolut integren Personen weltweit die Dopingkontrollen für die Spitzensportler aller Länder (z.B. Top-20 der Weltranglisten) durchführen. Länder, die diese (Trainings-) Kontrollen behindern oder auch nicht entsprechend mitfinanzieren, sollten auf Antrag der WADA vom IOC keine Teilnahmeberechtigung an Olympischen Spielen und von den internationalen Fachverbänden keine Teilnahmemöglichkeit bei WM und kontinentalen Meisterschaften bekommen.
Ebenso brauchen wir international eine Harmonisierung der Antidopingbestimmungen. Der WADA-Code liefert eigentlich eindeutige Richtlinien, somit erfordert es auch eine entsprechende Umsetzung inkl. Sanktionen in den Ländern, die den Code ratifiziert haben.
Zu den Maßnahmen, die Doping verhindern sollen, gehört auch eine adaptierte Limit-Strategie der internationalen und nationalen Verbände. So wurden die Limits vom deutschen Leichtathletikverband für die Teilnahme an Olympischen Spielen auf der Basis von Leistungen berechnet, die von gedopten Sportlern erzielt wurden. Überspitzt könnte man somit die Festlegung dieser Limits (Anm: Richtlinie in Deutschland ist eine „realistische Endkampfteilnahme“) als Dopingaufforderung sehen, bzw. muss für das Erreichen eines Limits bereits so eine Formzuspitzung erfolgen, dass beim Saisonhöhepunkt selbst die Hochform oft nicht mehr erreicht werden kann.
Wenn Österreich die Dopingbekämpfung ernst nimmt, dann muss endlich Doping als Strafrechts-Tatbestand gelten, wie dies z.B. bereits in Frankreich und Italien länger der Fall ist (und auch hilft!), und wie es in Deutschland in diesen Tagen mit der Verabschiedung des Antidopinggesetzes gerade passiert. Österreich ist damit aktuell in Europa in der 2. Liga der Dopingbekämpfung, was schnellstens geändert gehört. Deshalb sollten sich auch die BSO, bestimmte Politiker und andere Institutionen nicht mehr länger gegen eine schärfere Dopingbekämpfung wehren, sondern die Interessen der ehrlichen Sportler vertreten. Erst das Strafrecht sichert für den beschuldigten Sportler ein faires Verfahren unter Beachtung rechtsstaatlicher Prinzipien. Be- und Entlastungszeugen sollten gehört werden und gegebenenfalls auch (zwangsweise) vorgeführt werden können. Bei den Verfahren der Rechtskommission der Antidopingagentur ist das nicht der Fall, geladene Zeugen brauchen gar nicht zu erscheinen, weshalb gerade eine Verfolgung der „Hintermänner“ sehr schwierig ist.
Doping im Spitzensport ist abgesehen vom Fairness-Verstoß ein Akt von Wirtschaftskriminalität, bei dem es oft um mehrere hunderttausend Euro geht. In keinem anderen Lebensbereich werden entsprechende Verstöße derart bagatellisiert. Erschwerend kommt hinzu, dass damit meist auch öffentliche Mittel (Sportförderung!) zu Zwecken des Dopings verwendet werden, die woanders fehlen und somit die ehrlichen Sportler ein zweites Mal schädigen. Doping im Hobbysport ist vor allem Dummheit und Medikamentenmissbrauch.
Die Erwähnung des „Sportbetrugs“ im Betrugsparagraphen des Strafrechts ist jedenfalls zu wenig, das ist in dieser Form totes Recht und eine politische Alibiaktion.
Zur wirkungsvollen Prävention und Bekämpfung von Doping gehört der Bereich Aufklärung und Bewusstseinsbildung bei jungen Sportlern, aber auch die Androhung schwerwiegender Sanktionen. Schwerwiegende Dopingfälle (Anabolika, EPO, Blutmanipulation, …) sollten beim ersten Verstoß zu einer lebenslangen Sperre führen. Da Spitzensportler meistens dopen, um sich einen finanziellen Vorteil zu verschaffen, gehören auch entsprechende Geldstrafen zu den Sanktionsmaßnahmen, was wiederum das Strafrecht mit ordentlichen Gerichtsverfahren notwendig macht. Jeder Sportler, der irgendwann zu dopen beginnt, wiegt ab, ob der potentielle Gewinn das Risiko des Erwischtwerdens samt der drohenden Sanktionen das Dopen rechtfertigt. Gegenwärtig ist es leider so, dass Doping aus der Sicht des einzelnen Sportlers ökonomisch vernünftig ist, das muss drastisch geändert werden.
Ist auch in Österreich ein derartiger Skandal denkbar?
Gegenwärtig deutet nichts darauf hin, in der Vergangenheit war man aber nicht immer weit davon entfernt. Österreich sollte sich hüten, mit dem erhobenen Zeigefinger auf Russland zu zeigen. Der letztlich nie ganz geklärte Humanplasma-Skandal, wo man juristisch lediglich wegen einer möglichen Steuerhinterziehung ermittelt hat (und dessen Chef davon sprach, dass der „Wunsch dazu (Anm: zur Durchführung von Blutdoping) aus Kreisen der österreichischen Regierung kam“) oder die seltsamen Verwicklungen im seinerzeitigen Kiesl-Fall sind Insidern ebenso bekannt. Ebenso soll ein ehemaliges österreichisches Regierungsmitglied vor einigen Jahren ganz konkret bei der Vertuschung von Dopingfällen aktiv geholfen haben, wie von mehreren Personen berichtet wurde.
In der Vergangenheit haben Dopingfälle, z.B. im Schiverband, zu keinen strukturellen Änderungen geführt, es sitzen immer noch die gleichen Leute an den verantwortlichen Stellen, die behaupten, nichts gewusst zu haben. (Es gilt die Unschuldsvermutung.) Die österreichischen Sportstrukturen - die kompliziertesten der Welt mit einer unheimlichen und unheilvollen Verquickung von Sport und Politik - stellen sicherlich einen fruchtbaren Nährboden für Korruption dar, auch wenn das hierzulande klassisch als weithin tolerierte „Freunderlwirtschaft“ verniedlicht wird.
Als Konsequenz der medaillenlosen Olympischen Spiele 2012 in London wurden die ineffizienten Strukturen des österreichischen Sports nicht gestrafft, sondern ganz im Gegenteil, es entstand eine weitere Verkomplizierung und auch eine weitere parallele Förderschiene wurde eingeführt. Dazu wurden viele neue Jobs für Sportfunktionäre im Umfeld der Politik geschaffen, weshalb weiter nur ein Bruchteil der Ausgaben für den Sport beim Sportler und seinem Umfeld ankommt.
Die Sportförderung für Verbände basiert zum Teil auch auf einem mehr als umstrittenen Sportarten-Ranking, wo stur nach Medaillenerfolgen in der Vergangenheit gefördert wird, ohne Rücksicht auf die großen Unterschiede zwischen den Sportarten. Dieses System ist in dieser Form auch ein Doping-Förderungssystem, wo zusätzlich persönliche und politische Nahebeziehungen (zuständig ist ein ehemaliger Ministersekretär) zwischen Fördergebern und Fördermittelempfängern eine Rolle zu spielen scheinen. Viel sinnvoller wären Förderungen mit einem Multiplikatoreffekt und einer gewissen Nachhaltigkeit, was bei Investitionen in Trainer/Betreuungspersonen oder in die Sportinfrastruktur der Fall wäre. Es ist ein bezeichnendes Beispiel, dass in diesem Jahr die einzige jährliche Trainerfortbildung des ÖLV (Leistungssportkonferenz) abgesagt werden musste, weil es dafür keine Zuschüsse aus dem Sportministerium mehr gibt und gleichzeitig golfspielende Millionäre aus öffentlichen Mitteln gefördert werden.
Im Bereich des Dopingkontrollsystems haben wir heute grundsätzlich eine gut funktionierende NADA, wo vielleicht manchmal etwas mehr Herzblut und weniger „Dienst nach Vorschrift“ nicht schaden könnte. Die Politik hat aber hier mit dem aktuellen Antidoping-Bundesgesetz einen engen rechtlichen Rahmen vorgegeben, womit das Gesetz in der Praxis auch zu einem Doper-Schutzgesetz mutiert. Doper können anhand dieser „Anleitung“ genau kalkulieren, was ihnen (nicht) passieren kann.
Ist Spitzensport ohne Doping überhaupt möglich?
Klare Antwort: JA! Wenn entsprechendes herausragendes Talent vorhanden ist, der Sportler wirklich an die Spitze will und etwas Glück hat (z.B. sich nicht leicht zu verletzen), dann ist auf jeden Fall im Mittel- und Langstreckenlauf eine Olympiamedaille auch ohne Doping möglich. Die Dopingfälle der Vergangenheit – auch in Österreich – haben immer wieder gezeigt, dass oft nicht die talentiertesten Sportler betrügen, sondern Sportler mit Doping irgendwelche Defizite zu kompensieren versuchten.
Ein Weltklassesportler ist in gewisser Weise ein „biologischer Ausreißer“. Er hat vielleicht schon ohne Training eine VO2max von 70 ml/kg/min oder spricht extrem gut auf gesetzte Trainingsmaßnahmen an. Wenn ein solcher Sportler dann systematisch trainiert, dann kann er sehr weit kommen und auch ohne Doping Weltklasseleistungen erbringen. Jeder, der lange im Spitzensport tätig ist und Einblick in das Training und Umfeld von Olympiaathleten hat, weiß, dass der Großteil Leistungen ohne Doping erbringt.
Österreich als kleines Land müsste deshalb wirklich penibel Ausschau halten, um die herausragenden Talente, die auch bei uns vorhanden sind, überhaupt zu finden und ihnen eine Option auf den Einstieg in leistungssportliches Training bieten. Derzeit gibt es leider nicht einmal ansatzweise ein systematisches, staatliches Talenterfassungssystem. Zudem stellen die komplizierten Sportstrukturen und auch die „Vereinsmeierei“ (gegeneinander statt miteinander) bereits auf unterer Ebene ein teures Leistungsverhinderungssystem dar.