#breaking2 – was am Ende des Tages übrig bleibt
42,195km laufen in 2:00:25, also rund zwei Stunden lang mit ca. 2:51/km – das war eine herausragende Leistung von Eliud Kipchoge, der sich (im Gegensatz zu den anderen beiden Teilnehmern) in absoluter Topform präsentierte. In dieser Verfassung hätte er – auch wenn sehr spekulativ – auch einen „richtigen“ Weltrekord im Rahmen eines Marathons erzielen können.
Die Interpretation dieser Leistung bleibt jedem selbst überlassen. Man könnte einerseits schlussfolgern: der Versuch ist gescheitert, nicht einmal durch Ausreizen aller Möglichkeiten und unter Missachtung fast aller Regeln kann ein Mensch einen Marathon unter 2 Stunden laufen. Auf der anderen Seite kann man festhalten: wenn man Windschatten-Effekte bestmöglich ausnützt, die Verpflegung jederzeit ohne Einschränkungen (lt. IAAF-Reglement nur alle 5km) und Strecke/Bedingungen perfekt sind, so bringt das gegenüber einem „normalen“ Marathon nochmal zwei bis drei Minuten –allerdings nur bei einem sehr hohen Tempo von 20 – 21km/h, bei den Frauen wäre es schon deutlich weniger. Wenn die Behauptung stimmt, dass die verwendeten Laufschuhe „Karbon-Federelemente“ enthalten, dann sind diese entsprechend der geltenden Regeln ebenfalls illegal.
Er war knapper an der 2:00-Marke als ich gedacht hatte und es war spannend. Wer es live verfolgt hat (ich habe den Großteil live gesehen und gehört), hat sich vielleicht so wie ich gewundert, welche Begräbnisstimmung nach dem Zieleinlauf herrschte, weil das erklärte Ziel – eben 25 Sekunden schneller zu laufen – nicht erreicht wurde. 1:59:59 wäre die Weltsensation gewesen und ein paar Sekunden langsamer in einem Freiluft-Laborversuch führt zu offensichtlicher tiefer Enttäuschung und Depression? Wie pervers!
Ist das Streben nach einem künstlich hoch stilisierten „Rekord“ oder das Brechen einer „Schallmauer“ tatsächlich so wichtig?
Die Bedeutung von (Welt-)Rekorden ist für Athleten und Trainer im Spitzensport sicherlich wesentlich geringer als bei Journalisten, Sponsorfirmen und der breiten Masse der eher passiven Sportkonsumenten, die Rekorde, brutale Stürze oder zumindest blutige Nasen sehen wollen. Auch für Kenianer zählt ein Sieg beim London-Marathon wesentlich mehr als ein Weltrekord. Gerade beim Marathon, wo der Weltrekord und Leistungen aufgrund immer unterschiedlicher Strecken- und Wetterbedingungen (sowie Läuferfelder, etc.) nie direkt vergleichbar sind, rückt für die Aktiven das Rekordstreben in den Hintergrund – wenn man einmal von den ausgelobten Rekordprämien absieht. So wäre eine Zeit von 2:05 vor zwei Wochen beim VCM sicherlich sportlich wertvoller gewesen als der aktuelle Weltrekord in Berlin bei optimalen Bedingungen. Ich persönlich hätte Eliud Kipchoge lieber beim London-Marathon im spannenden Wettstreit gegen die anderen besten Läufer der Welt gesehen als bei einem Versuch mit drei Läufern einer Firma, wo die anderen ausgeschlossen waren (übrigens auch wie „normale“ Zuschauer, es wurden nur Geladene zugelassen).
Das Set-Up, das Marketing und die Art der Live-Übertragung dieses „Laborversuches“ (hätte genauso gut von einer anderen Firma sein können) erinnerte sehr stark an Felix Baumgartners Stratosphären-Plumpser. Die Leistungen der beiden Männer darf man eigentlich nicht in einem Atemzug nennen, denn die sportliche Leistung von Kipchoge war phänomenal, während die Aktion von „All-Felix“ mit Sport nichts zu tun hat. Der gemeinsame Nenner war, dass sich Marketing-Strategen von Markenherstellern akribisch überlegt haben, wie sie eine Dauerwerbesendung als sportlichen Bewerb tarnen können. Es würde mich nicht wundern, wenn der nächste „Rekordversuch“ von Red Bull kommt, und das dann ohne Kompromisse…
Die TV-Kommentatoren waren über weite Strecken eher peinlich, stilisierten die Veranstaltung mit typisch amerikanischem Pathos u.a. „zu einer der größten menschlichen Errungenschaften seit der ersten Mondlandung“ hoch, faselten irgendwelche Trainings-Allgemeinplätze oder versuchten gewaltsam hochwissenschaftliche Theorien einer eigentlich simplen Tätigkeit aufzupfropfen. Das meinte ich bei meinem Facebook-Posting mit „für die Dummen“. Ebenso, wenn PR-Aussendungen der Veranstalter praktisch 1:1 von Agenturen und Medien wiedergegeben werden, wie z.B. „Ein Ärzte- und Wissenschaftsteam begleitete die Ausdauerspezialisten auf Fahrrädern“ (Die Presse).
Wozu Ärzte auf Fahrrädern? Weil eine plötzliche Erkrankung drohte und einer der fittesten Menschen des Planeten plötzlich zusammenbrechen könnte? „7 Monate gezielte Vorbereitung, ein großes Team von Medizinern (!) und Sportwissenschaftlern, Kosten von ca. € 30 Millionen“ – so wurde uns berichtet. Insbesondere das „große Team von Medizinern“ finde ich ziemlich bedenklich. Mediziner haben gelernt, wie man kranke Menschen repariert, engagieren sich manchmal (auch wenn es leider geschäftsschädigend ist) im Bereich der Vorsorge, aber top-fitte Menschen noch leistungsfähiger zu mache, das ist sicher nicht die Kernkompetenz von Medizinern, solange alles hinsichtlich Antidoping-Bestimmungen legal abläuft. Um das klarzustellen: es gab und gibt niemals Hinweise, dass Eliud Kipchoge irgendetwas mit Doping zu tun hat, eine herausragende Leistung ist dafür jedenfalls kein Indiz! Lediglich das Umfeld des Organisators, insbesondere mit Trainer Alberto Salazar (nicht der persönliche Trainer von Kipchoge), der seinen eigenen Sohn für Testosteron-Experimente missbrauchte und der wegen (eigentlich klar verbotener) Infusionen, die er seinen Athleten verabreichte, seit Jahren (zu Recht) in der Kritik steht, ergibt ein bedenkliches Gesamtbild.
Wer zu Doping greift, entscheidet das irgendwann mehr oder weniger rational durch Abwägen der möglichen Vorteile gegenüber den Folgen des Erwischtwerdens (die ohne Strafrecht für Doper eher lachhaft sind). Voraussetzung ist jedenfalls eine gewisse Dopingmentalität, d.h. die Bereitschaft, bestimmte Regeln auf der Suche nach dem Erfolg zu umgehen. Das dem Sport eigene „fair play“ unterscheidet ihn entscheidend von anderen Gesellschaftsbereichen und das sollte trotz aller (notwendigen) Kommerzialisierungsbestrebungen immer erhalten bleiben. Verantwortungsbewusste Eltern müssen weiter froh sein können, wenn die Kinder im positiven Umfeld eines Sportvereins integriert sind, der die Ideale eines positiven (und gesunden) Gesellschaftsentwurfes hochhält. #breaking2 hat wahrscheinlich nicht direkt etwas mit Doping zu tun, erfüllt aber leider alle Kriterien zur Entwicklung einer Dopingmentalität. Nennt mich ruhig naiv, aber: schneller, höher, weiter – egal wie und mit welchen Mitteln - das ist nicht die Richtung, in die sich der Sport entwickeln sollte wenn er sich nicht selbst abschaffen möchte, und die Protagonisten sollten sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein.
Immer wieder betont wurden die akribischen (sport-)wissenschaftlichen Vorbereitungen der Läufer, wo man den Zuschauern irgendetwas vorgaukelte. Jeder, der längere Zeit in Kenia verbracht hat und weiß, wie das Training dort abläuft und wie die Umfeldbedingungen sind, weiß auch, wie sich die Kenianer höchstens amüsieren über unsere (oftmalige) Pseudo-Wissenschaftlichkeit. Es war primär eine Unterhaltungsshow oder meinetwegen ein fragwürdiges sportwissenschaftliches Experiment (weil keinerlei wissenschaftliche Kriterien eines Versuchs erfüllt waren), nicht viel anders als „Dancing Stars“ oder „Deutschland sucht den Superstar“. Im Spitzenbereich unseres Sports ist in Wirklichkeit alles viel einfacher, die Sportler haben ein wahnsinnig gutes Gefühl für ihren Körper. Das wollen die meisten engagierten Hobbyläufer einfach nicht wahrhaben, weil sonst der Mythos verloren gehen könnte.
Die Bedingungen und Grenzen des „Rekordversuches“ waren zudem sehr willkürlich gezogen. Die Distanz war nach Veranstalterangaben korrekt (angeblich AIMS-vermessen, wobei das schwer überprüfbar ist), sonst hatte die Aktion wenig mit einem Marathonlauf gemeinsam, außer dem Hauptdarsteller.
Den Windschatten durch das Führungsfahrzeug hätte man noch etwas konsequenter ausnützen können, da sind seinerzeit schon in Wien Gerhard Hartmann (u.a. bei seinem Rekord im Jahr 1986 (2:12:22)) und später Eva-Maria Gradwohl wesentlich dichter hinter ihrem Führungsfahrzeug gelaufen. Bei Hartmann war es sogar ein eigens adaptierter VW-Bus, wo man die Abgase mit einem Schlauch nach oben geleitet hatte und Gradwohl ist eigenen Angaben zufolge einige Male aufs Führungsfahrzeug (mit zusätzlichem Aufbau als Windschild) aufgelaufen, weil sie so knapp dahinter war (und später wegen Verstoßes gegen die Dopingbestimmungen gesperrt wurde…).
Warum hat man nicht gleich einen leicht bergab führenden Kurs genommen, eine point-to-point Strecke mit starkem Rückenwind oder heftigen Rückenwind aus großen Ventilatoren auf Begleitfahrzeugen produziert? Absurd? Nicht unbedingt und nicht einmal neu, wie (Doper) Justin Gatlin bei einem „Weltrekord“ über 100m in Japan gezeigt hat:
Egal ob #breaking2 oder der „Wings for Life World Run“ am Tag darauf: es gibt unzweifelhaft eine Entwicklung des Sports: weg vom institutionalisierten Sport der Verbände mit genormten Disziplinen und Strecken, andere „Formate“, weg vom Olympischen Sport. Wenn sich Menschen von solchen Bewerben inspirieren lassen und deshalb selbst Sport betreiben, dann hat die Entwicklung etwas Gutes. Sport als aktive Gesundheitsvorsorgemaßnahme wird immer wichtiger. Wenn es eine für die Marketing-Strategen von sponsorwilligen Firmen passende Sportart nicht gibt, wird sie einfach erfunden (z.B. „Red Bull Air Race“) und bei Bedarf wieder eingemottet. Könnte ja auch egal sein. Nicht egal sollte es aber den Verbänden und internationalen Organisationen (IOC, …) sein, die mit ihren Korruptions- und Dopingskandalen selbst viel zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Die Veranstalter von vielen klassischen Marathonläufen versuchen einer Stagnation mit einem immer größeren Angebot zu begegnen. Sie müssen sich Gedanken machen warum z.B. immer mehr Läufer für die Teilnahme an „dirt runs“ viel Geld ausgeben, um dort das zu tun, was sie seinerzeit bei den Bundesheer-Übungen am meisten gehasst haben und den eigentlichen Marathonläufen, wo die Leistung objektiv eingeordnet werden kann, zunehmend fernbleiben. Das große und neue Angebot führt zwangsläufig zu einer relativen Entwertung der klassischen Bewerbe und der dort erzielten Leistungen, wenn heute schon jeder Kirschkernweitspucker und Baumstammroller in der Provinz einen neuen „Weltrekord“ aufstellen kann. Die Olympischen Spiele haben ohnehin durch das Überangebot anderer internationaler Wettkämpfe viel eingebüßt.
Also: Die Leistung von Eliud Kipchoge war bewundernswert, das ganze Rundherum und viele dazu passende Entwicklungen, die offensichtlich zu unserem Zeitgeist passen, sind aber mehr als fragwürdig. Wenn sich dadurch jemand zum Laufen inspirieren lässt (kann ich mir persönlich schwer vorstellen), dann ist es gut. Und das Beste daran: die zahlreichen Reaktionen (es müssen nicht alle die gleiche Meinung haben) zeigen, dass Sport Emotionen weckt und einen hohen Stellenwert hat!
Ausführlicher Bericht im "Standard" von Fritz Neumann (mit Zitaten von mir)
Kommentar im "Standard" von Florian Vetter
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