Armin Walter schreibt nicht nur über den New York Marathon seiner Frau Tamara. Er musste auch laufen...
"NYC-Marathon 2018 - Der zweite Versuch
Der Weckruf ertönte am Sonntag um zehn Uhr am Vormittag MEZ. Da wir uns aber in New York befanden, war es erst fünf Uhr Ortszeit und finster, als das Handy zum Sturmangriff in meine Gehirnwindungen blies. Bevor ich das Gerät in den ewigen Schlummermodus versetzen konnte, erlöste mich ein Kuss meiner lieben Frau mit einem gehauchten: "Aufwachen Schatz, heute ist der Marathon", von den schweren Gedanken. "Geh bitte..." Doch wer meine Frau kennt, weiß, dass sie eine Eskimorolle im Bett als Zeichen meines Unwillens nicht gelten lässt.
Also voller Energie aus dem Bett gesprungen und die Laufutensilien kontrolliert. Startnummer: Check, Pulsuhr: Check, Schuhe: Check, warme Sachen, um die Wartezeit im Freien ohne Lungenentzündung zu überstehen: Check, Energy-Gels eingepackt: Check. Gut, hat alles meine Frau gemacht, denn sonst wäre ich wohl in Unterhose am Start des weltgrößten Marathonereignisses gestanden. Zu meiner Ehrenrettung muss ich aber sagen, dass ich mich zumindest selbst mit Vaseline an den exponierten Stellen meines Körpers gesalbt habe. Das macht man, um wenigstens einige Schmerzen zu minimieren. Es gibt ja noch genug andere. Doch dazu später.
Dank meiner Selbstdisziplin saßen wir also pünktlich um sechs Uhr im Bus, der uns nach Staten Island brachte - dem Start des New York Marathons. Finster war der Himmel zwar noch immer, aber das fällt am Times Square nicht so auf, weil einem die Leuchtreklamen die Netzhaut auch um diese unchristliche Zeit aus den Augen brennen. Wer im Gegensatz mir in der Früh lange braucht, um in die Gänge zu kommen, hatte dieses Mal Glück. Aus einem mir nicht bekannten Grund dauerte die Fahrt zum Startbereich gute zwei Stunden. Somit hatten wir bis zum Start unserer Welle nur noch drei Stunden im Freien zu verbringen. Wir versorgten uns mit Bagels, Kaffee und Wasser und suchten uns ein gemütliches Plätzchen auf einem freien Rasenstück. Gut hat alles meine liebe Frau gemacht, aber wozu ist man denn verheiratet? Genau, um den anderen zu unterstützen!
Aber um ca. 10.30 Uhr war es endlich so weit. Wir wurden in die Corrals eingelassen. Zur Erklärung: Aufgrund der hohen Teilnehmerzahl (> 52.000) werden die Starterfelder unterteilt. Zunächst einmal in vier so genannte Waves, wobei die schnellsten vorne weg in der ersten Wave starten. Wir waren in der vierten. Nein, fünfte gab es keine. Die Waves sind wieder in Corrals eingeteilt, in Buchstaben von A bis G. Und wir waren in A! Also von den Langsamsten die Schnellsten. Hat den Vorteil, dass man nicht so viele Läufer überholen muss und seinen Rhythmus schneller findet. Leider mussten wir uns in den B - Corral rückversetzen, weil meine liebe Frau, als der Block A auf die Verrazano Bridge eingelassen wurde, noch am Dixieklo gesessen ist. Das empfand ich als grobe Rücksichtslosigkeit mir gegenüber, da ich doch vor hatte, mit ihr eine NPB (Neue persönliche Bestzeit) zu laufen. Wozu bin ich eigentlich verheiratet??
Somit weiter hinten als es und gebührte, wurden wir von einem Startschuss, den ein versteckter Kampfpanzer abgefeuert haben muss, darauf hingewiesen, dass wir jetzt ein bisserl laufen sollen. Die ersten Kilometer gingen auch ganz flockig aus den Schuhen. Denn das Kaiserwetter lockte unvorstellbar viele Zuseher an die Laufstrecke, die uns nach Leibeskräften anfeuerten. Denen und sicher auch ihrer entleerten Blase war es zu verdanken, dass meine liebe Frau ein Tempo an den Tag legte, das sie niemals bis zum Schluss würde durchhalten können. Um sie etwas zu zügeln hielt ich mich hinter ihr auf. Ganz entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit, wo ich ihr den Hasen mache. Ich mache ihr auch manchmal den Hengst, aber das soll nicht das Thema hier sein. Bis Km 20 etwa, also fast zur Hälfte des Rennens, glühten wir mit einem 6:30er Schnitt am Kilometer dahin. Das reichte für alles! NPB, Finisher Liste in der New York Times (alles unter 4:57:00), ja vielleicht sogar ein anerkennender Händedruck von Reiseveranstalter Andy Perer, der mit seiner Agentur Runners Unlimited den mehr als 100 startenden Österreichern die Reise nach New York zum Erlebnis machte, war alles drin. Bis meine liebe Frau ihrem Anfangstempo Tribut zollen musste. "Ich mache die ganze Zeit die Führungsarbeit. Warum läufst du nicht mal vorne", war das erste gesprochene Anzeichen eines Erschöpfungszustandes. "Warum laufst nicht einfach hinter mir", dachte ich mir, denn eine Diskussion war bei ihrem Zustand sinnlos.
Dann kamen immer häufigere Trinkpausen. Ausgemacht war, dass wir jede zweite Meile, derer es 26 und ebenso viele Labestationen gab, unseren Durst löschen. Ab etwa der Hälfte des Rennens blieb sie bei jeder Meile stehen. Natürlich war das Trinken nur ein Vorwand, doch ihre zunehmende Energielosigkeit wollte sie partout nicht eingestehen. Ganz im Gegenteil! Nach der kurzen Trinkpause rannte sie umso schneller. Als sie fast außer Sichtweite war, erhielt sie die Rechnung für ihre unökonomische Laufweise. Ich kam ihr wieder näher, was sie mit einem "Kannst eh noch?" kommentierte. "Das wirst nicht bis zum Schluss durchhalten", dachte ich mir. Wozu reden, sie hört ohnehin nicht zu.
Auf der 5th Avenue, kurz vor dem Einlauf in den Central Park, etwa 10 Km vor dem Ziel, kam dann ihr erwarteter Einbruch. Die Menge schrie, feuerte uns an, aber meine liebe Frau konnte nur mehr gehen. Eigenartiger Weise war sie gehend genau so schnell unterwegs, wie ich laufend. Zumindest bildete ich mir ein, noch zu laufen. Meine Arme bewegten sich jedenfalls noch im Laufstil, was mit den sich wie in Zeitlupe bewegenden Beinen ein etwas unharmonisches Gesamtbild ergab. "Sollen wir am Rand stehen bleiben", fragte mich meine liebe Frau. "Da stehen Helfer mit Massagestäben. Vielleicht kannst deine Muskeln ein bisschen auflockern?" "&§?!!%&", dachte ich mir.
Der letzte Kilometer war ein Sieg des Willens über den Körper. Meines Willens, über meinen Körper, um genau zu sein. Sie lief ja wieder, etliche Meter vor mir, nachdem sie so ein Energy-Gel Sackerl zu sich genommen hatte. "Das wird sie durchhalten", dachte ich mir in Panik. Doch mit einer geradezu übermenschlichen Anstrengung ignorierte ich die wie Feuer brennenden Oberschenkel, die von Krämpfen malträtierten Waden, das schmerzende Stück Fleisch, das einmal mein Körper war. Ich fokussierte nur noch aufs das Eine: "Sie darf nicht vor mir ins Ziel!" Fünf Meter vor der Ziellinie erwischte ich ihre entkräftete Hand, riss sie nach oben und wir liefen gemeinsam über die Finisher Line... 5:00:47 zeigten unsere Uhren als Durchlaufzeit an.
Im Zielraum fiel mir meine liebe Frau um den Hals und konnte ihre Tränen nicht mehr zurück halten. "Ich bin stolz, dass du es geschafft hast", sagt der Mann an ihrer Seite, der für einen Sessel ein Monatsgehalt gegeben hätte. "Das war ja eh klar. Ich bin so enttäuscht, weil wir es nicht unter fünf Stunden geschafft haben", sagte sie, während sie Kniebeugen machte, als hätte sie einen kenianischen Reisepass. "Ich lass mich scheiden", dachte ich."